10. Jahrestag der Einweihung der „Gedenkstätte Waldfriedhof“
Rede für die Gedenkfeier anlässlich des 60. Jahrestages der Inbetriebnahme des NKWD-Speziallagers Nr.6 in Jamlitz und des 10. Jahrestages der Einweihung der „Gedenkstätte Waldfriedhof“ am 3.9.2005
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrter Herr Noack, (Vorsitzender Initiativgruppe Internierungslager Jamlitz),
sehr geehrte Mitglieder der Initiativgruppe Internierungslager Jamlitz e.V.,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
zu diesem feierlichen Gedenken an die Inbetriebnahme des Internierungslagers Jamlitz begrüße ich Sie alle recht herzlich. Mein besonderer Gruß gilt den ehemaligen Häftlingen, ihren Angehörigen und Hinterbliebenen. Sie alle haben die Beschwernisse der Reise auf sich genommen, um gemeinsam der zu Tode gekommenen Opfer und den durchlittenen Qualen der Überlebenden zu gedenken. In unser Gedenken schließen wir ausdrücklich auch die Opfer des Außenlagers Lieberose des KZ Sachsenhausen mit ein.
Wie ein Spinnennetz überzogen die Todesstätten der Nationalsozialisten das damalige Reichsgebiet und die vom Deutschen Reich besetzten Länder. Bis heute wissen viel zu wenig Menschen, dass es neben den großen Konzentrationslagern wie Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau, wo Zehntausende Inhaftierte litten und starben, unzählige kleinere, so genannte Neben- oder Außenlager existierten. Darunter Lager wie Lieberose, in denen die Menschen ebenso litten und starben, deren Namen jedoch viel zu schnell in Vergessenheit gerieten. Am Tag der Befreiung eines solchen Lagers noch am Leben zu sein, war für manche Häftlinge jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Zukunft in Freiheit. Ebenso wenig schützte das Ende des Krieges normale Bürgerinnen und Bürger vor willkürlicher Gewalt und Entrechtung. Vielmehr begann für Tausende Menschen, darunter ehemalige KZ-Häftlinge, viele unschuldige Menschen und sogar Kinder, nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den sowjetischen Internierungslagern ein qualvoller Leidensweg.
Auch das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde nur kurze Zeit nach seiner Befreiung erneut zu einem Ort des Schreckens: Die sowjetischen Sieger richteten dort im Herbst 1945 ein so genanntes Speziallager ein. „Einrichten“ bedeutete, dass ab September 1945 Marschkolonnen und Waggontransporte mit Häftlingen eintrafen. Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder – das jüngste gerade 12 Jahre alt – aus der näheren und weiteren Umgebung der Niederlausitz. Bis zu seiner Auflösung im Frühjahr 1947 waren im Speziallager Nr. 6 in Jamlitz mehr als 10.000 Menschen eingesperrt. Darunter prominente Namen wie die zum weiteren Kreis der Hitler Attentäter zählenden Widerständler Justus Delbrück und Freiherr Ulrich von Sell, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Wie in allen vergleichbaren Lagern bestand auch in Jamlitz das Leben der Inhaftierten aus all dem, was jeder Mensch fürchtet und verabscheut: Schmerz, Dreck, Verrat, Gewalt, Einsamkeit, Hunger, Durst, Angst, Kälte, Krankheit, Gier – und Tod. Dieser Mikrokosmos des Grauens schien irgendwo außerhalb der zivilisierten Welt angesiedelt zu sein und lag in Wirklichkeit – auch geografisch – inmitten der vermeintlich zivilisierten Gesellschaft. Was in den Lagern geschah, was die Inhaftierten ertragen mussten, kann niemand, der es nicht durchgemacht hat, vollständig nachempfinden.
Das Internierungslager Jamlitz bestand 19 Monate. In dieser Zeit starben mehr als 3.000 Menschen an Hunger, Kälte und Seuchen. Schuldige Kollaborateure des Nazi-Regimes, aber auch viele Unschuldige wurden zu Opfern einer staatlichen Gewalt, die jenseits jeder Rechtsnorm agierte. Ein ordentliches Gerichtsverfahren und ein gerechtes Urteil wurden den Gefangenen verweigert. Die spätere DDR-Regierung machte sich mitschuldig, indem sie die Fakten über das Ausmaß an Willkür und der damit einhergehenden Grausamkeit unterdrückte. Die politische Führung wusste, dass eine Debatte über das Unrecht in den sowjetischen Speziallagern die Machtgrundlage des kommunistischen, selbsternannten „Arbeiter- und Bauernstaates“ und die Politik der SED in Frage gestellt hätte. Zu groß war die Furcht davor, dass Parallelen zwischen Jamlitz und den KZ-Nebenlagern der Nationalsozialisten gezogen worden wären. Um jede Anprangerung und unliebsame Deutung zu verhindern, wurden die Verbrechen aus der Frühphase der DDR bis zu deren Ende 1989/90 tabuisiert und entsprechende Dokumente unter Verschluss gehalten.
Den Häftlingen wurde nach der Haftzeit ein unbedingtes Schweigegebot auferlegt und bei Zuwiderhandeln mit Wiederverhaftung gedroht. Die im Lager erlittene Isolation bestand auf diese Weise auch nach der Freilassung weiter fort. Für alle unschuldig inhaftierten Häftlinge erwuchs daraus eine traumatische Situation mit tief greifenden Auswirkungen auf den persönlichen und beruflichen Lebensweg. Entsprechend groß war bei vielen ehemaligen Opfern das Gefühl der Befreiung und Erleichterung beim Zusammenbruch der DDR. Zugleich kamen mit dem politischen Umbruch die Erinnerungen an die teils verdrängte, teils überwunden geglaubte Vergangenheit zurück. Eine Konfrontation, die die alten Wunden wieder aufbrechen ließ. Auch an diese schwere seelische Belastung der ehemaligen Opfer gilt es heute zu erinnern.
Und doch bleibt immer festzuhalten und zu betonen, dass erst die politische Wende in der DDR eine Aufarbeitung des Geschehenen möglich machte. Auch hier in Jamlitz konnte 1990 endlich begonnen werden, die Spuren des ehemaligen Lagers zu bewahren und am authentischen Ort Erinnerung zu ermöglichen. Neben dem Zentralrat der Juden in Deutschland war es die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die das Projekt einer Dokumentation unter freiem Himmel unter Einbeziehung der Initiativgruppe Internierungslager Jamlitz unterstützte und mit entwickelte. Der Bund, das Land Brandenburg und nicht zuletzt die Europäische Union trugen finanziell dazu bei, dass in Jamlitz vor zwei Jahren die zwei Dokumentationsstätten eröffnet werden konnten. Allen Geldgebern und ideellen Unterstützern sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt. Sie alle haben mitgeholfen, damit das Schicksal der unzähligen unschuldigen Opfer des KZ-Nebenlagers Lieberose und des Internierungslagers Jamlitz nicht in Vergessenheit gerät.
Die Erinnerung wach zu halten und an die nächste Generation weiter zu geben, muss in diesem 60. Jahr des Gedenkens an das Kriegsende und die Befreiung der Konzentrationslager unser zentrales Anliegen sein. Die brandenburgische Landesregierung ist sich ihrer Verantwortung in dieser Frage bewusst und wird auch in Zukunft alles in ihren Kräften stehende tun, um die Geißel des Rechtsradikalismus zu bekämpfen. Die Zeitzeugen von einst, die so viel Schreckliches erleiden mussten, sind uns bei unseren Anstrengungen eine unschätzbare Hilfe. Leider werden sie nicht unbegrenzt von ihren Erlebnissen berichten können. Es ist an uns allen, Ihre Schicksale im Herzen und in den Köpfen zu bewahren, um unsere Kinder und Kindeskinder gegen radikale Einflüsterungen, gegen Intoleranz, Antisemitismus und Menschenverachtung zu wappnen. Wenn dies gelingt, waren das Leiden und Sterben in Lieberose und Jamlitz nicht vergebens.
Ich danke Ihnen.